Am 26. April 2021 wird WILD Heerbrugg, heute Leica Geosystems AG, Teil von Hexagon, 100 Jahre alt. 100 Jahre großartige Innovationen in der Entwicklung von geodätischen und photogrammetrischen Instrumenten, großartige Entwickler, Ingenieure und Manager. Alles begann im Spätherbst 1920 mit einem Telegramm von Heinrich Wild, zu der Zeit Leiter der Abteilung Geodätische Instrumente bei Carl Zeiss, Jena, Deutschland, an Dr. Robert Helbling, Bergsteiger, Gebirgskartograph und Inhaber eines Vermessungsbüros in Flums, Schweiz: “Ich habe einen neuen Autographen zur photogrammetrischen Herstellung von Karten konstruiert, der viel billiger sein wird als das sich auf dem Markt befindliche Modell“. Auf der Suche nach einem Sponsor zur Gründung einer neuen Firma sprach Dr. Helbling bei Jacob Schmidheiny vor, einem einflussreichen und hochangesehenen Industriellen aus dem Alpenrheintal. Nach umfangreichen Vertragsverhandlungen konnte am 26. April 1921 der Gesellschaftervertrag der neuen Firma „Heinrich Wild, Werkstätte für Feinmechanik und Optik, Heerbrugg“ unterschrieben werden. Das neue Unternehmen begann mit etwa 30 Mitarbeitern.
Heinrich Wild begann neben der Konstruktion des Autographen mit der Entwicklung und dem Bau eines Phototheodoliten und der weltbekannten T-Reihe: dem T1, T2 und T3. Der WILD T2 war als Universaltheodolit ausgelegt, mit einer Winkelmessgenauigkeit von 1“ und einem revolutionären Design. Bisherige Sekundentheodolite waren große und schwierig zu bedienende Repetitionstheodolite (Abb. 1), so dass der T2 von Beginn an ein „Bestseller“ wurde. Dieser konnte in 73 Jahren mehr als 90,000 mal verkauft werden. Kein anderer Theodolit hat bisher diese hohe Nachfrage erreichen können. Warum war der WILD T2 so besonders?
Abb. 1: Repetitionstheodoliten und der WILD T2 – ein Größenvergleich
Heinrich Wild hatte bei Carl Zeiss, Jena, bereits den Theodoliten Th I konstruiert, bevor er in seiner eigenen Firma den äquivalenten, jedoch noch verbesserten Theodoliten T2 bauen wollte. Folgende Merkmale waren ihm wichtig:
- Sehr kompaktes Fernrohr mit 24facher Vergrößerung, innerer Fokussierlinse und zu beleuchten.
- Zylindrische Stehachse aus gehärtetem Stahl und kugelgelagert (Abb. 2a).
- Glaskreise mit 1“ Ablesegenauigkeit und daher sehr präzisen Ätzungen der Teilkreisstriche (0,15 μm) (Abb. 2b).
- Koinzidenzmikroskope für Horizontal- und Vertikalkreis zur Ablesung von diametralen Teilkreisstellen (Abb. 3b).
- Sehr kompaktes und geschlossenes Gehäuse von etwa 4,5 kg Gewicht.
- Staubdichter Behälter zum leichten Transport.
Abb. 2: Kugelgelagerte zylindrische Stehachse und diametral ablesbare Glaskreise
Das Koinzidenzmikroskop zur Ablesung der zwei diametralen Teilkreisstellen wurde durch ein Planplatten-Mikrometer realisiert und brachte große Zeitersparnis im Vergleich zur Ablesung von nur einer Teilkreisstelle (Abb. 3a).
1923 konnten die ersten 24 Geräte ausgeliefert werden, trotz widriger Umstände in der Serienfertigung. Schwierig war u.a. die Herstellung der Horizontalkreise (d=90 mm) und Vertikalkreise (d=70 mm) aus Glas, ein Novum zu dieser Zeit, da diese bisher aus Messing angefertigt wurden. Die ersten Geräte wurden in noblem Schwarz/Weiss ausgeliefert (etwa 1,800 Stück), in 1927 erfolgte der Übergang zum klassischen WILD-grün.
Abb. 3: Anzahl der Ablesestellen der Teilkreise: (a) Strahlengang mit einer Ablesestelle; (b) Zusammenspiegeln von zwei Ablesestellen
Der WILD T2 wurde aufgrund der großen weltweiten Nachfrage bis zum Jahr 1995 gebaut und im Lauf der Jahrzehnte dem technologischen Fortschritt immer wieder angepasst. Eine Teildigitalisierung der Teilkreise in 1972 konnte Fehler bei den Zehnerminutenablesungen vermeiden.
Abb. 4: Der WILD T2 im Laufe der Zeit – die Grunddesignelemente blieben erhalten.
Die moderne didaktische und historische Forschung im Bereich Digital Humanities erfordert eine 3D-Digitalisierung und Dynamisierung von wichtigen Designelementen. Der WILD T2 stellt ein Paradebeispiel für ein solches Projekt dar. In Abstimmung mit Hexagon Geosystems, Heerbrugg, wurde 2019 beschlossen, einen WILD T2 aus dem Jahr 1927 zur Verfügung zu stellen (Abb. 4b). Dieser wurde durch einen Bildverband von bis zu 800 Photos aufgenommen und durch photogrammetrischen Bündelausgleich (Structure-from-Motion, SfM) und dichte Bildzuordnung (Dense Image Matching, DIM) in eine kolorierte 3D- Punktwolke überführt (Abb. 5).
Abb. 5: Photogrammetrische Digitalisierung des WILD T2: (a) Aufnahmen und (b) 3D-Punktwolke
In einem weiteren Schritt wurde mittels interaktiver Computergraphik ein CAD-Modell erstellt, auch als CSG-Modell (Constructive Solid Geometry) bezeichnet. Dabei wird das Punktwolkenmodell in seine Bauteile zerlegt und diese werden dann entsprechend texturiert (Abb. 6). Dieses 3D-Modell kann beliebig dynamisiert werden: Drehen um die Alhidadenachse (Libellenachse), Durchschlagen des Fernrohrs, Zerlegung in die optischen Bestandteile (mittels Schnittzeichnungen), Kamerafahrt entlang der Strahlengänge für Horizontal- und Vertikalkreis, Darstellung von Achssystemen u.v.m. Dieses dynamische Modell hilft Designelemente besser zu verstehen, Studierende für die geodätische Instrumentenkunde zu begeistern und Laien bisher geschlossene Exponate digital „aufzuschliessen“ und zu begreifen. Diese moderne Form der Didaktik wird auch als „Education Entertainment“ oder kurz „Edutainment“ bezeichnet und ist gerade erst im Entstehen. Die Digitalisierung von technologischem Kulturerbe – auch als Tech Heritage (TH) bezeichnet - ist eine wichtige Aufgabe, die nicht nur die Wissenschaft interessiert, sondern auch Firmen wie Hexagon hilft, ihre Vergangenheit zu verstehen und an die vergangenen grossartigen Designer, Ingenieure, Techniker, Manager und Produkte zu erinnern und auf deren Wirken weiter aufzubauen.
Abb. 6: Interaktive 3D-Modellierung und Texturierung mittels Computergraphik
Mittlerweile ist der Umgang mit Mobilgeräten (Smartphones und Tablets) nicht mehr aus dem täglichen Leben wegzudenken. Alle nutzen Anwendungen (Apps), um bestimmte Informationen auf ihrem Mobilgerät anzeigen zu lassen. Aus diesem Grund entsteht gerade in enger Abstimmung mit Hexagon Geosystems, Heerbrugg, die „WILD T2 App“, mittels derer die Entstehungsgeschichte von WILD Heerbrugg, ein kurzer Lebenslauf von Heinrich Wild, die Designelemente vom WILD T2, die 3D-Rekonstruktionen und Animationen abgerufen werden können. Die App erscheint in Deutsch, Englisch und Chinesisch (Mandarin), um der weltweiten Bedeutung des ikonischen WILD T2 Rechnung zu tragen – sie wird pünktlich zum 100-jährigen Geburtstag zur Verfügung stehen. Weiterführende Literatur zum Thema ist unten angegeben.
Literatur
Deumlich, F. (1972): Instrumentenkunde der Vermessungstechnik. VEB Verlag für Bauwesen, Berlin. 332S.
Fritsch, D., Wagner, J.W., Simon, S., Ceranski, B., Niklaus, M., Zhan, K. & Wang, Z. (2018): Gyrolog—Towards VR Preservations of Gyro Instruments for Historical and Didactical Research. In 2018 Pacific Neighborhood Consortium Annual Conference and Joint Meetings (PNC), San Francisco, CA, USA, 27–30 October 2018, pp. 1–7, doi:10.23919/PNC.2018
Fritsch, D., Wagner, J.W., Ceranski, B., Simon, S., Niklaus, M., Zhan, K. & Mammadov, G. (2021). Making Historical Gyroscopes Alive – 2D and 3D Preservations by Sensor Fusion and Open Data Access. Sensors, 20th Anniversary Issue. 31p.
Grossman, W. (1969): Vermessungskunde. II Horizontalaufnahmen und ebene Rechnungen. Sammlung Göschen, Band 469/469a
Simmen, R. (1991): Von Wild zu Leica – 70 Jahre Firmengeschichte. Eigenverlag Leica Geosystems.